Ich bin mit Tatjana verabredet, einer 31-jährigen jungen Frau aus Mogiljow, die gemeinsam mit Bruder und Mutter viele Jahre zur Gastkindererholung in Deutschland war. Ich kenne Tatjana persönlich seit einem Treffen im vergangenen Jahr und bin gespannt auf unser Wiedersehen. Zu zwei Familien in Deutschland besteht seit der Kindheit ein sehr enger familiärer Kontakt.
Tatjana holt mich im Hotel Turist ab und wir schlendern gemeinsam durch den sonnigen und sehr heißen Nachmittag. Bei einem kleinen Imbiss frage ich sie, ob ich etwas über ihre Familie und ihre Erinnerungen an die Zeit in Deutschland in meinem Blog schreiben darf.
Man merkt Tatjana an, dass sie im Moment sehr angespannt ist, denn gestern wurde ihre Mutter in Minsk am Herzen operiert - laut behandelndem Arzt eine sehr schwierige Operation. Die Mutter ist Tatjanas einzige Bezugsperson und daher ist es nur verständlich, dass sie unter Tränen über ihre Sorgen und Ängste berichtet. Zum Glück verlief die OP ohne Komplikationen, jedoch wird für Mutter Alla noch ein langer Genesungsweg zu bewältigen sein. Tatjana will ihrer Mutter so gut es geht zur Seite stehen, jedoch ist sie selbst nicht gesund. Deshalb trägt sie auch immer einen medizinischen Mund- und Nasenschutz, sobald sie Gebäude betritt oder mit vielen Personen zusammentrifft.
Im Jahr 1997 reiste Tatjana im Alter von 5 Jahren gemeinsam mit ihrer Mutter das erste Mal nach Deutschland im Rahmen der Tschernobyl-Erholungsreisen. Sie wurden bei der sehr netten Gastfamilie Keidel in Kamen untergebracht.
Weitere jährliche Reisen nach Deutschland folgten bis einschließlich 2012, wobei dann auch der 2,5 Jahre jüngere Bruder Wladimir mitreiste. Bei beiden Kindern war im frühen Kindesalter eine Immunschwäche festgestellt worden. Dank der Hilfsbereitschaft von Doris und Randolf Keidel konnten Tatjana und Wladimir viele Jahre lang das gesamte folgende Jahr mit dem Medikament “Octagam“ (Immunglobulin) versorgt werden, welches die Gastfamilie für beide auf der Heimreise mitgab. Leider war dieses Medikament seinerzeit in Belarus nicht erhältlich, jedoch für das weitere Leben von Tatjana und Wladimir lebensnotwendig. Familie Keidel umgab beide mit so viel Liebe und Fürsorge, so dass sie als die zweiten Eltern von Tatjana und Wladimir gelten können. Auch heute kümmert sich die Familie immer noch und schicken Pakete mit notwendigen Lebensmitteln. Für all diese Sorge ist Tatjana aus tiefstem Herzen dankbar.
Während der Aufenthalte in Deutschland lernte Tatjana ein weiteres nettes Ehepaar kennen, bei dem Tatjana und Wladimir teilweise während der Gastkinderaufenthalte wohnte. Von Wiltrud und Erich Nöhrbaß berichtet Tatjana als warmherzige und gutherzige Menschen, zu denen bis heute eine enge Verbundenheit besteht und die auch mittels Hilfspaketen unterstützen.
Tatjana und ihr Bruder Wladimir besuchten aufgrund ihrer Erkrankung keinen Kindergarten und wurden während der Schulzeit zeitweise zu Hause unterrichtet, wenn Grippe- oder andere Infektionswellen im Umlauf waren. Für beide war es lebenswichtig jegliche Ansteckungsgefahr zu vermeiden.
Beide haben das Abitur gemacht, anschließend studiert und sind einem Beruf nachgegangen: Tatjana war als Deutschlehrerin an einer Schule angestellt und Wladimir arbeitete als Programmierer für eine Firma in Minsk.
Dann kam das Jahr 2020 und Corona. Dieses Jahr sollte für die Familie alles verändern. Tatjana und Wladimir steckten sich beide mit Corona an. Für Menschen mit einer Immunschwäche ist dies eine Katastrophe. Tatjana ist insgesamt 1 Jahr Corona positiv und verbringt mehr als 6 Monate im Krankenhaus. Wegen der langen krankheitsbedingten Ausfallzeit im Beruf verliert sie ihre Anstellung an der Schule. Die Infektion bedeutet für sie starke gesundheitliche Beschwerden und sie wird schließlich von der Gesundheitskommission als nicht mehr arbeitsfähig eingestuft und verrentet. Seither erhält sie eine ganz kleine Pension. Schließlich kann sie eine eine Anti-Covid-Plasma Behandlung erhalten, was für sie die Wende bringt. Seitdem ist sie Corona-Negativ und es geht gesundheitlich langsam aufwärts. Eine zwischenzeitlich verabreichte Hormon-Therapie verursachte bei ihr starke Gewichtszunahme, welcher sie jedoch seit mehreren Monaten mit langen Spaziergängen entgegenwirkt. Uns so treffe ich sie heute um 15 kg leichter als im vergangen Jahr. Der Gewichtsverlust ist auch wichtig für ihre durch die Medikamente geschädigte Leber und für ihr Gangbild. Tatjana hatte in der Kindheit Kinderlähmung und Beeinträchtigungen an den Füßen beibehalten.
Als wir auf ihren Bruder Wladi (so nennt sie ihn liebevoll) zu sprechen kommen, fallen ihr die Worte schwer. Denn ihn hatte die Corona-Infektion besonders hart getroffen mit unfassbar starken Beschwerden. Sein Zustand verschlechterte sich so sehr, dass er mehrfach im Krankenhaus intensiv behandelt werden musste. Jedoch konnte sein Zustand weder stabilisiert noch verbessert werden und so verstarb Wladi im Alter von nur 26 Jahren am 30.04.2021. Eine Tragödie für die Familie, die bis heute eine große Lücke im Familienverbund und eine tiefe Wunden hinterlässt. Tatjana zeigt mir das letzte Foto von sich und ihrer Mutter gemeinsam mit ihrem Bruder. Auf dieser Aufnahme tragen alle ein schwarzes Oberteil und rückblickend empfindet sie dieses Bild als Omen für alles, was anschließend passierte.
In der großen Zeit der Trauer waren die beiden Familien in Deutschland eine große emotionale Stütze für Tatjana und Mutter Alla. Auch über die mehr als 2.000 km große Entfernung werden fast täglich Nachrichten über Messengerdienste ausgetauscht und gemeinsam um den Verlust von Wladi getrauert, gemeinsam aber auch an viele schöne und lustige Begebenheiten gesprochen, um so die Erinnerung an Wladimir lebendig zu halten. Tatjana bittet mich auszurichten, dass sie beiden Familien unendlich dankbar ist für alles.
Ich frage Tatjana, was ihr aktuell größter Wunsch ist. Sie wird still, dann merke ich, dass sie mit den Tränen kämpft. Sie sagt, dass die Erinnerungen an die langen Jahre der Aufenthalte in Deutschland ihr jeden Tag aufs Neue Kraft geben Krisen zu überstehen und mit ihrer chronischen Erkrankung und all den Begleiterscheinungen umzugehen. Besonders die mehr als 25 Jahre bestehende enge Verbindung zu den deutschen Familien gab und gibt ihr bis heute enormen Halt. Sie träumt oft davon gemeinsam mit ihrer Mutter noch mal in die zweite Heimat Deutschland zu reisen und die deutschen Gastfamilien in die Arme zu schließen. Wir vereinbaren, dass wir gemeinsam alles daran setzten werden, um diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen.
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