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Wir waren Gastkinder



Ich bin zum Online-Gespräch Swetlana (33), Anna (35) und Olga (36) verabredet, drei Schwestern, die als Kinder viele Male nach Deutschland im Rahmen unserer Gastkindererholungen reisten. Mit ihnen möchte ich über ihre Erinnerungen und Erfahrungen als ehemalige Gastkinder sprechen.


Die Familie stammt aus Grjasiwez, einem kleinen Dorf in der Nähe von Slavgorod, welches seinerzeit zu den stark strahlenbelasteten Gebieten zählte. Nach den aktuell gültigen Grenzwerten ist die Region jetzt als „sauber“ eingestuft.

Im Rahmen unserer Hilfstransporte besuchten unsere Vereinsmitglieder und Hilfstransportbegleiter die Kolchose im Dorf Grjasiwez, in der der Vater von Olga, Anna und Swetlana als Tierarzt arbeitete. Das Dorf hat nur einige wenige Einwohner und besteht aus einer lang gezogenen Straße, an der die Häuser aufgereiht sind. Die Familie zählte zu den sogenannten kinderreichen Familien, da man ab 3 Kindern in der Familie zu dieser Kategorie gehört. Die Mutter arbeitete als Postbotin bei der örtlichen Post.

Seinerzeit in den späten 1990er Jahren organisierten viele ausländische Vereine Gastkindererholungen für Kinder aus strahlenbelasteten Gebieten. Die meisten Kinder fuhren nach Belgien, Italien, Frankreich und Kanada. Aber auch viele deutsche Verein waren aktiv. Und so machte unser Vereinsmitglied Willi Cremer der Familie den Vorschlag, dass eines der Mädchen im nächsten Sommer nach Deutschland reisen könne. Die Mutter hielt Anna für die tapferste und so fuhr sie im Alter von ca. 10 Jahren das erste Mal nach Deutschland. Im folgenden Jahr wurde Anna ein weiterer Aufenthalt bei einer Gastmutter ermöglicht und über unseren Verein und unser seinerzeitiges Patenschaftsprojekt konnte eine nette Patenfamilie gefunden werden. Man zeigte Familie Effhauser die Fotos der drei Mädchen und fragte, ob sie für eines der dreien eine Patenschaft übernehmen würden. Das Ehepaar Effhauser wollte auf keinen Fall eines der Geschwisterkinder bevorzugen und so entschieden sie sich für alle drei eine Patenschaft zu übernehmen. Und so ging mit unseren Hilfstransporten ein von Effhausers sorgfältig gepacktes Hilfspaket auf die Reise und erreichte die Drei von einer für sie bis dato unbekannten Familie. Dem Paket beigefügt war ein handschriftlicher Brief, mit dem der persönliche Kontakt angebahnt wurde, der bis heute anhält.

Olga, als Älteste, lernte in der Schule bereits Deutsch und übersetzte mittels eines Wörterbuches die Kommunikation zwischen Deutschland und Belarus. Nach zwei Jahren intensiven Austausches und Kennenlernens fuhren alle drei Geschwister im Jahre 2002 zum ersten Mal mit unserer Gastkindergruppe nach Deutschland. Olga erinnert sich, dass es eine riesige Kindergruppe war und man mit einem Doppelstockbus reiste, der zwei Tage unterwegs war. Welch eine beschwerliche Fahrt!

Bei der Ankunft in Erftstadt erkannte Olga ihre Gasteltern Jutta und Hansjörg schon direkt, als sie aus dem Busfenster blickte, und brach in Tränen aus. Es waren Tränen der Freude und niemand konnte sie beruhigen. Vielmehr steckten die Freudentränen alle an und man viel sich in die Arme. Obwohl es das erste Treffen zwischen Menschen war, die sich vorher noch nie begegnet sind, stimmte die Chemie direkt und alle empfanden direkt eine tiefe Verbundenheit. „Solche besonderen Begegnungen im Leben sind selten – hierüber sind wir sehr glücklich“, sind sich Olga, Anna und Swetlana einig.

In Erinnerung haben alle Drei, dass die Gastfamilie mit ihnen viele Reisen unternahm: nach München, Berlin und Holland. Viele Sehenswürdigkeiten, Museen und Kulturdenkmäler wurden besucht und es eröffnete sich für die Mädchen eine völlig neue Welt westlich der Heimat. Die Gastfamilie sorgte sich sehr um das Vermitteln der hiesigen Kultur und versuchte selbst etwas Russisch zu lernen. Im Badezimmer waren viele kleine Klebezettel angebracht mit russischen Begriffen, um den Gastkindern zu erklären, wo der Fön liegt und wie der Duschhebel zu bedienen ist. Besonders in Erinnerung ist geblieben, dass Familie Effhauser für ihre Gastkinder jedes Jahr Bücher in russischer Sprache als Lektüre kaufte. Und so konnten die Mädchen auf russischer Sprache „Harry Potter“ lesen, eine Lektüre, die sie in der Heimat nicht so einfach hätten kaufen können.

Alle Drei sind sich einig, dass ihre Gastfamilie entscheidend zu ihrem Werdegang, ihrer Bildung und persönlichen Entwicklung beigetragen hat.

Bis zum Beginn des Studiums reisten die mittlerweile jungen Frauen jedes Jahr nach Deutschland mit der Kindergruppe. Als Studentinnen wurde die Anreise auch schon mal eigenständig mit der Bahn organisiert und die Rückreise mit der Kindergruppe. Die Aufenthalte in Deutschland haben alle Drei so sehr geprägt, dass sie während des Studiums Deutsch lernten und Olga und Anna sogar den Beruf der Deutschlehrerin wählten.

2017 hatte Olga dann die Chance als Begleiterin und Dolmetscherin mit einer Gastkindergruppe nach Sachsen zu reisen. Diese Reise begleitete auch Tatjana Tschikunowa, über die ich bereits in einem meiner vorherigen Blogbeiträge berichtete als Pionierin der Tschernobylarbeit.

Während all der Zeit der Verbundenheit über unsere Vereinsaktivitäten besuchten Willi Cremer und Sigrid Pietz im Rahmen der Hilfstransporte und Begegnungsreisen die Familie im Dorf. Zwischen Willi und dem Vater von Olga, Anna und Swetlana hatte sich über die Jahre eine enge Freundschaft entwickelt. Die Familie lebte das typische Dorfleben mit eigener Landwirtschaft. Hierzu gehörten einige Nutztiere und ein sehr großes Stück Acker, auf dem Gemüse und Obst angepflanzt wurde. Das eigene Fleisch, Obst und Gemüse halfen der Familie in wirtschaftlich schweren Zeiten die Ernährung sicherzustellen. Alle halfen bei der Bewirtschaftung, dem Pflanzen und Ernten mit, auch die Kinder. Mit der Erkrankung des Vaters und dem frühen Tod musste die Familie die Landwirtschaft verkleinern und so lebt die Mutter heute weiterhin im Dorf mit ein paar Hühnern und einem kleinen Garten. Auf meine Frage, ob man die Lebensmittel auf mögliche Strahlenbelastung untersucht hätte, bekomme ich die Antwort, dass sie zu klein waren und sich daran nicht mehr erinnern könnten.

Auf einen der Besuche im Dorf wurden Willi und Sigrid von Familie Effhauser begleitet, die sich mit den Eltern ihrer langjährigen Gastkinder bekannt machen konnten und viel vom Land, den Traditionen und Gepflogenheiten erfuhren. Gemeinsam reiste man auch nach Witebsk und besuchte dort das Chagall-Museum – getreu dem Kultur- und Bildungsprogramm, welches auch in Deutschland immer obligatorisch war.


Mittlerweile sind Olga, Anna und Swetlana verheiratet und haben ihre eigenen kleinen Familien. Doch der Kontakt nach Deutschland zu den vertrauten und liebgewonnenen Menschen ist immer noch intensiv. War die Kommunikation früher noch verbunden mit handschriftlichen Briefen, langen Postwegen, hohen Telefonkosten – so ist man sich heute Dank der modernen Technik so nah, als würde man nur „nebenan“ wohnen.

Ein persönliches Wiedersehen konnte im Jahr 2019 stattfinden, als Olga und ihren Sohn Gleb unsere letzte Gastkindergruppe vor Corona nach Deutschland begleitete. Für das Jahr 2020 war sie auch schon fest eingeplant, aber leider machten uns die Pandemie sowie die geopolitische Situation einen Strich durch die Rechnung. Gastkindergruppen bedürfen einer Genehmigung der Behörden in Belarus, die leider seit 2020 bis auf Weiteres ausgesetzt sind.

Und so erfreuen wir uns alle an den Erinnerungen an schöne gemeinsame Zeiten, an Menschen, die wir kennengelernt haben und mit denen wir immer noch im Herzen verbunden sind!


1 Kommentar

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Guest
Feb 12

Toller Beitrag, vielen Dank!

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