Heute treffe ich mich mit langjährigen Ehrenamtlerinnen, die seit Anbeginn unserer Vereinsarbeit verlässliche Partnerinnen sind und bis heute am Vereinsgeschehen teilhaben.
Wir sind in einem Lokal in der Stadt verabredet und wollen über die Anfänge der gemeinsamen Arbeit in den Jahren unmittelbar nach der Tschernobyl-Katastrophe sprechen.
Galina holt mich im Hotel ab und berichtet, dass sie gerade aus der Univorlesung mit ihrer Studentenschaft kommt. Die Dame ist wirklich ein Phänomen, denn mit ihren 87 Jahren unterrichtet sie immer noch mit Leidenschaft und sprüht nur so vor Energie, Wissen und Interesse an Geschichte und aktueller Politik. Sie hat mir typisch belarusisches Konfekt mitgebracht und Schokoladenriegel mit aufgedruckten traditionellen Trachten – alles fast zu schade um es zu essen.
Im verabredeten Lokal treffen wir Tatjana (73), die keinen Tag älter aussieht als vor vielen Jahren, wo wir uns kennenlernten. Tatjana hat zwei Freundinnen mitgebracht: Nina, die Organisatorin der ersten Kinderreisen nach Deutschland und Ljudmila, die Oma eines ehemaligen Gastkindes.
Nachdem wir uns gegenseitig auf den aktuellen Stand unseres Privatlebens gebracht haben (Tatjana, Galina und ich haben uns das letzte Mal vor 1 Jahr gesehen) bitte ich die Damen etwas aus den 1990er Jahren zu berichten.
TATJANA ist unsere gute Seele der Hilfstransporte. Seit dem Start unserer Hilfslieferungen nach Mogiljow für Kranke, Behinderte, kinderreiche und sozial schwache Familien, Senioren und weitere Bedürftige organisiert sie mit Leidenschaft uns sehr akribisch die Abwicklung sämtlicher Formalitäten und organisiert die Verteilung der Hilfsgüter vor Ort. Seinerzeit in den frühen Anfängen gab es nur einen zuständigen Zollbeamten, keine umfangreichen Formulare und die Hilfsgüter konnten direkt vom LKW aus an die Menschen verteilt werden. Mit den Jahren ist natürlich das Prozedere bürokratischer geworden und es waren immer sehr umfangreiche Vorbereitungen zur Einfuhr der Güter, zur Zollanmeldung sowie zur Genehmigung als humanitäre Hilfe nötig. Bis die Pakete dann an die Familien und Partnerorganisationen, Krankenhäuser, das Kinderheim verteilt werden durften, mussten sie in einer zertifizierten Zollzone gelagert werden, das konnte schon mal bis zu 5 Monate dauern.
Viele Jahre fuhren Ehrenamtliche unseres Vereins die Hilfstransporte mit geliehenen LKWs und Aufliegern nach Belarus, bis wir dann vor einigen Jahren auf die Kooperation mit einer Spedition aus Belarus umstellten. Aufgrund der aktuellen Gegebenheiten schicken wir keine eigenen Transporte mehr, denn das Prozedere ist zu kompliziert geworden. Über die Kooperation mit einer zuverlässigen gemeinnützigen Organisation in Deutschland können wir jedoch noch vereinzelt Pakete auf den Weg bringen – so wie auch im Juni dieses Jahres. Tatjana zeigt mir auf ihrem Telefon die Fotos der Verteilung der Pakete.
Tatjana blickt auf viele Jahre der Erfahrung mit den beteiligten Strukturen zurück und sagt, dass sie an der ehrenamtlichen Arbeit die Zusammenarbeit über Grenzen hinweg schätzt. Aus den Begegnungen im Einsatz für die gute Sache entstanden oftmals Freundschaften, die bis heute anhalten. In den Anfängen herrschte trotz der Angst, der Verunsicherung, der zahlreichen gesundheitlichen Auswirkungen aufgrund der Atom-Katastrophe doch eine Aufbruchstimmung, der allen Beteiligten Hoffnung gab auf Veränderung. Bis heute hält dieses Gefühl an und gibt ihr den Antrieb für ihr Ehrenamt.
GALINA spricht hervorragend Deutsch und ist immer „Up to date“ was Gesellschaft und Politik in Deutschland betrifft. Von 1991 – 2003 begleitete sie Kindergruppen im Rahmen der Erholungsreisen nach Deutschland, davon 1994 und 2003 im Rahmen unserer Gastkindergruppeneinladungen. Zudem dolmetschte sie, wenn Reisegruppen aus Deutschland nach Mogiljow kamen oder wenn unsere ehrenamtlichen Fahrer im Rahmen der Hilfstransporte ein paar Tage in der Stadt verweilten. Hierdurch kennt sie fast jeden in unserer Organisation und auch den Werdegang der Gastkinder oder Patenkinder in Mogiljow konnte sie verfolgen. Bei der Versorgung der deutschen Gäste legte Galina immer einen sehr großen Ehrgeiz an den Tag. Die Unterkünfte waren immer mit allem Wichtigen ausgestattet: genügend Besteck und Geschirr, gefüllte Kühlschränke und selbstverständlich gab es immer eine große Schüssel ihres legendären Olivier-Salates. Ich glaube jeder Gast aus Deutschland hat mindestens 1 Mal von diesem Salat probiert.
NINA treffe ich heute das erste Mal. Sie blickt auf große Erfahrung im Bereich der Kindererholungsreisen zurück. Sie organisierte im Jahr 1990 als erste überhaupt die Reise einer Kindergruppe aus Belarus nach Deutschland. Die Kinder stammten aus Gomel und Mogiljow – beides stark bestrahlte Regionen. Es waren seinerzeit 90 Kinder, die zur Genesung ausreisten.
Nina arbeitete seinerzeit ehrenamtlich mit der Stiftung „Den Kindern von Tschernobyl“ von Gennadi Gruschewoi und seiner Frau Irina zusammen (Infos zur Stiftung: https://futur-drei.com/interview-mit-irina-gruschewaja-belarussische-menschenrechtsaktivistin/). Auch Tatjana arbeitete eng mit dieser Stiftung zusammen und war 4 Mal in Deutschland mit den Kindergruppen.
Galina, Tatjana und Nina erinnern sich gerne an diese Reisen zurück und wie anstrengend die Reisen waren – aber auch voller neuer Eindrücke, neuer Freundschaften, liebevoller Gastfamilien und Verbundenheit in der Gemeinschaft. Auch LJUDMILA berichtet voller Freude von den Reisen ihres Enkels Egors nach Deutschland. Egor hat eine starke Hörbeeinträchtigung und die Gastfamilie wandte sich seinerzeit gemeinsam mit unserem Verein an einen Hörgeräteakustiker. Dieser versorgte Egor mit einem passgenauen Hörgerät, welches Egor immer wieder während seiner Aufenthalte in Deutschland kontrollieren und anpassen lassen konnte. Durch das bessere Hören konnte Egor Abitur machen, studieren, hat den Führerschein gemacht und übt mittlerweile einen Beruf aus. Oma Ljudmila spricht zum wiederholten Male ihren großen Dank aus und betont, dass die Reisen nach Deutschland ihrem Enkel nicht nur Erholung gebracht und einen Blick „über den Tellerrand“ ermöglich hat, sondern auch entscheidend für seinen weiteren Werdegang und seine persönliche Entwicklung beitragen hat.
Unser Damengrüppchen taucht weiter in Erinnerungen ein und es wird die ein oder andere Anekdote hervorgeholt. Alle sind wir sehr traurig, dass erst Corona und jetzt die aktuelle Situation eine Zäsur gesetzt haben und die Kinderreisen bis auf Weiteres nicht mehr möglich sind. Denn der völkerverständigende Aspekt dieser Reisen ist im Moment für alle wichtiger denn je.
Zum Abschied bekomme ich noch mal kunstvoll gestaltete Schokolade überreicht und zwei Antonov-Äpfel mit dem Hinweis, dass es sich hierbei um eine der ältesten Apfelsorten in Belarus handelt. Werde ich alles sicherlich mit Genuss probieren.
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