
Jedes Mal stelle ich bei meinen Reisen nach Belarus fest, wie unterschiedlich das Stadt- vom Dorfleben ist. Verlässt man das Stadtgebiet der Großstädte mit den dort vorherrschenden Plattenbauten, so taucht man in eine völlig andere Lebenswelt ein. Und so besuche ich heute mit meiner Freundin Olga, Vorstandsmitglied unseres Partnervereins MosaikaAktiv, ihr Heimatdorf Grjasivez. Ihr Mann Eduard fährt uns die ca. 40 Minuten andauernde Strecke auf langen und zum Teil sehr holprigen Landstraßen. Es ist Minus 7 Grad und die vorbeiziehenden Waldgebiete und schneebedeckten Landschaften erstrahlen im schönsten Weiß. Aufgereiht an der Landstraße passieren wir sogenannte Agrarstädtchen und kleinere Ortschaften. Die Gegenden außerhalb der Großstädte sind geprägt von kleinen Ziegelhäusern oder Holzhäuschen, oftmals mit buntem Anstrich und verspielten Holzschnitzereien.

Alle Häuser sind umgeben von großen Gärten, auf denen Geräteschuppen, Banjas und Nutztierställe ihren Platz haben. Und selbstverständlich dient das Gelände auch zum Anbau von Kartoffeln, Obst und Gemüse. Wir sehen Wachhunde, von denen einige mit lautem Gebell unserem Auto hinterherjagen. Olga berichtet, dass ihr Heimatdorf mittlerweile nur noch 17 Einwohner*innen zählt. Es handelt sich überwiegend um Menschen im Rentenalter. Junge Familien würden aus den Dörfern wegziehen, da man dort keine Arbeit finde und der Weg in die Großstädte zu weit sei. Olgas Mutter Valentina lebt nach dem Tod des Ehemanns alleine im Haus, in dem Olga mit ihren beiden Schwestern groß geworden ist. Als Olgas Vater seinerzeit zum Pflegefall wurde, entschied sich die Familie das Haus mit einer Heizung auszustatten. Üblicherweise haben die Häuser auf dem Dorf einen großen Ofen, der mit Holz beheizt wird. Jedoch ist der Fußboden im Winter trotz Ofenbetrieb meistens kalt. Im Ofen hat Olgas Mutter heute ein traditionelles Gericht vorbereitet: Borschtsch mit Sauerkraut. Bei dem eisigen Wetter freue ich mich schon sehr auf die heiße Suppe.

Wir betreten das Grundstück durch ein Tor und auch hier werden wir vom Bellen des angeketteten Wachhundes begrüßt. Ein Huhn stolziert am Holzschuppen vorbei – es ist das einzig noch verbliebene Federvieh auf Valentinas Grundstück. Ich werfe einen Blick in den Holzschuppen, der bis zum Dach angefüllt ist mit Brennholz. Stolz zeigt mir Olga die Banja, die typische hauseigene Sauna, die gerade im Winter von den Einheimischen sehr geschätzt wird. Hier heißt es „Kopf einziehen“, wenn man die Banja betreten will. Der Hinweis kommt jedoch für mich zu spät, denn meine Stirn hat schon Bekanntschaft mit dem Querbalken gemacht.
Hinter der Banja und den diversen Schuppen erstreckt sich der Nutzacker, auf dem Valentina Kartoffeln, Tomaten, Gurken, Paprika u.v.m. anbaut. Olga berichtet, dass in den drei Monaten während der Sommerferien alle Familienmitglieder hier im Einsatz sind und mithelfen. Gerade für die Kinder ist dies eine unbeschwerte Zeit inmitten der Natur und dem so völlig anderen Leben als in der Stadt.
Langsam wird zieht die Kälte in unsere Glieder und wir sind froh, dass Valentina zum Essen ruft. Üblicherweise betritt man die Dorfhäuser durch die sogenannte Sommerküche, ein Vorraum, in dem in den Sommermonaten gekocht und auch geschlafen wird. Angrenzend ist die „gute Stube“, in der der große Holzofen sofort ins Auge fällt. Er ist multifunktional, da man mit ihm kocht, heizt und auf ihm schlafen kann. Sogar kleine Nischen sind in die Ofenwände eingelassen, in denen man Handschuhe und Socken aufbewahren kann. Es ist eine Wohltat ein paar warme Socken anzuziehen, wie ich selbst feststelle. Denn beim Betreten des Hauses ist es üblich, die Straßenschuhe auszuziehen.
Olga führt mich durch die Zimmer und ich stelle fest, dass das Haus trotz kleiner Grundfläche geräumig ist. Von der guten Stube gehen das Elternschlafzimmer, das ehemalige Kinderzimmer für die drei Schwestern und ein Wohnzimmer ab. In diesem befindet sich in einer Zimmerecke eine Ikone – auch dies ist obligatorisch in den Dorfhäusern. Nachgerüstet wurde seinerzeit im Haus ein kleines Bad. Jedoch suche ich vergebens nach der Toilette. Diese befinde sich auf dem Hof, so wird mir mitgeteilt. Auch das ist üblich für das Leben auf dem Dorf.
Valentina hat den kleinen Küchentisch neben dem Ofen gedeckt und holt mit einem langen Holzstab den heißen Kessel mit der Suppe aus dem Ofen. Es duftet köstlich und ich werde darauf aufmerksam gemacht, dass man die Suppe mit „Smetana“ (saurer Sahne) essen solle. Die Suppe schmeckt hervorragend und wärmt noch dazu. Dazu essen wir Blinis – auch diese sehr lecker - und trinken Tee.
Wir machen einen kleinen Spaziergang durch das Dorf. Viele Häuser sind unbewohnt und verfallen zusehends. Einige Häuser werden nur im Sommer genutzt und vereinzelt sieht man Sanierungsarbeiten. Für die kleine Anzahl der noch hier Wohnenden kommt zwei Mal wöchentlich ein „fahrender Supermarkt“ vorbei, um die Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen. Denn nicht jeder hat ein Auto und kann einfach in die nächstgelegene Stadt fahren.
Auf der Straße stehen in regelmäßigen Abständen Wasserpumpen, an denen man sich versorgen kann, wenn das Haus keinen Wasseranschluss hat. Auch einen Brunnen gibt es, in dem aus schwindelerregender Tiefe mit Eimern Wasser geschöpft werden kann. Olga berichtet davon, dass es früher hier mehr Häuser gab und ein kleines Geschäft. Leere Grundstücke, der Natur preisgegeben, lassen erahnen, wo das ein oder andere Gebäude früher gestanden haben muss.
Wir setzen unsere Fahrt fort und fahren in die Stadt Slauharad, in der wir ein Tschernobyl-Denkmal besuchen. Die Gegend um Slauharad wurde 1986 durch die Nuklearkatastrophe radioaktiv kontaminiert. Viele Dörfer mussten aufgegeben, begraben und die Bewohnerschaft umgesiedelt werden. Die Allee der ausgesiedelten Dörfer erinnert an diese Tragödie. Auch Olgas Heimatdorf sollte seinerzeit aufgegeben und die Einwohner*innen umgesiedelt werden. Olga berichtet, dass ihre Familie dort angebautes Obst und Gemüse in Abständen auf radioaktive Belastung untersuchen lässt. Die Grenzwerte waren zum Glück bisher nur minimal überschritten. Auch wenn Olga im Sommer Pilze und Beeren im Wald sammelt, lässt sie diese immer auf mögliche Kontamination überprüfen. Auch wenn mittlerweile fast 40 Jahre seit der Katastrophe vergangen sind, so darf die mögliche Gefahr durch die Radionuklide nicht unterschätzt werden. Nicht alle machen sich über mögliche Auswirkungen auf die Gesundheit Gedanken, denn Familien mit geringem Einkommen oder kleiner Rente haben keine andere Chance als all das zu verarbeiten und zu verzehren, was im eigenen Garten angebaut oder im Wald gesammelt wurde.
Comments