Im Oblast (Landkreis) Mogiljow sind verschiedene Regionen als radioaktiv kontaminiert ausgewiesen. An Waldwegen kennzeichnen Schilder das dahinter liegende Gebiet und weisen mögliche Besucher darauf hin, dass man hier keine Pilze und Beeren sammeln soll. Diese gekennzeichneten Gebiete liegen oberhalb der in Belarus geltenden Grenzwerte.
Es gibt auch Gebiete, an denen ein zusätzlicher Schlagbaum die Weiterfahrt verbiet. Meine Freundin berichtet von einer Bekannten, die einen Friedhof in einer verstrahlten Region besuchen wollte, weil dort ein Angehöriger begraben ist. Die Familie fuhr in dieses mit Warnschild und Schlagbaum ausgewiesene Gebiet und wurde nach kurzer Zeit von der Miliz kontrolliert. Das Betreten dieses Gebietes wird überwacht und nur aus bestimmten Anlässen ist der Zugang erlaubt – üblicherweise besuchen die Familien die Gräber der Verstorbenen am Feiertag Raduniza.
Südlich und südöstlich der Stadt Mogiljow liegen viele Dörfer und Kleinstädte in Gebieten, die als strahlenbelastet gelten. Viele von ihnen sind ganz normal bewohnt, die Familien bestellen dort ihre Gärten und essen, was dort angebaut wird. Es gibt jedoch auch Dörfer, die seinerzeit nach der Tschernobyl-Katastrophe evakuiert wurden. Einige Dörfer wurden entvölkert sich selbst überlassen, andere Dörfer abgetragen und „begraben“.
Wir fahren lange Landstraßen durch Wald- und Ackergebiete. Plötzlich sehen wir im Vorbeifahren an einem Waldeingang ein Warnschild und halten an. Hier wird darauf hingewiesen, dass der Verzehr von Waldfrüchten nicht empfohlen wird. Wir gehen etwas in den Wald hinein und uns fallen direkt ein paar Pilze ins Auge. Mir wird berichtet, dass sich viele Menschen nicht von den Schildern abhalten lassen die Waldfrüchte zu sammeln. Für die Einheimischen ist das Sammeln im Wald eine Tradition und der Gedanke an die Gefahr durch Strahlenbelastung bei vielen nicht präsent. Lebensmittel sind teuer, die Löhne bei vielen gering und so kann man das nutzen, was kostenlos zur Verfügung steht. Zudem besteht in öffentlichen Gebäuden die Möglichkeit die gesammelten Beeren, Pilze und das Selbstangebaute mit einem speziellen Gerät auf Belastung untersuchen zu lassen. Ob dies regelmäßig genutzt wird, kann man mir nicht mit Sicherheit sagen.
Wir fahren die Landstraße weiter entlang und kommen nach einigen Kilometern an eine etwas zugewachsene Bushaltestelle. Hier liegt ein Dorf, welches seinerzeit evakuiert wurde. Das Gebiet darf man betreten, denn es ist nicht mit einem Warnschild versehen. Wir sehen zwei etwas größere und offensichtlich bewohnte Holzhäuser. Ein paar Meter die Straße entlang erstreckt sich ein Straßenzug mit Häuserruinen. Die Fenster und Türen sind hohl und von allen Seiten hat sich die Natur das Territorium zurückerobert. Strommaste stehen dort einsam und Efeu und Gestrüpp ranken sich empor. Kleinere abzweigende Pfade lassen das Straßennetz dieser Siedlung erahnen und wir streifen durch die Gegend.
Abseits der damaligen Hauptverkehrsstraße stapfen wir durch hohes Gras, Sträucher und Gebüsch. Beim genaueren Hinschauen können wir ehemalige Gärten sehen, denn es stehen dort noch wacklige Reste von Jägerzäunen, Obstbäume stehen dort und wir gelangen schließlich an eine alte Wasserpumpe. Auch heute ist es in vielen Dörfern noch üblich, dass man sich das Wasser an einer Pumpe holt. Hinter der Pumpe auf einer Anhöhe im dichten Gestrüpp sehen wir ein verfallenes Holzhaus, da wie im Dornröschen-Schlaf liegt. Es ist wirklich tragisch. Denn wüsste man die Begleitumstände nicht, würde man diesen Ort als sehr idyllisch beschreiben. Es ist absolut still hier, wir hören nur die leichte Brise wehen, Blätter rascheln, Insekten brummen und ab und zu ruft ein Vogel. Zugleich wird man von einer tiefen Traurigkeit erfüllt und man denkt an all die Menschen, die ihren Heimatort so plötzlich verlassen mussten.
Wir gehen den Trampelpfad zurück, wie wir gekommen sind, und fahren mit dem Auto noch etwas weiter die ehemalige Straße entlang. Plötzlich eröffnet sich vor uns ein Platz, zwar voller Gräser und Sträucher, aber als solcher trotzdem noch gut erkennbar. Daneben ragt ein „zahnloses“ mehrstöckiges Gebäude in die Höhe – vermutlich die damalige örtliche Schule. Wir sitzen schweigend und können fast das unbeschwerte Lachen unzähliger Kinder hören, die hier vor dem 26. April 1986 zur Schule gegangen sind.
Nachdenklich setzen wir unsere Fahrt fort.
Wir sehen ein weiteres Ortsschild und fahren in Richtung PILNJA. Zuerst geht es durch einen kleinen Wald, dann entlang einiger Äcker bis wir eine Brücke über einen kleinen Fluss erreichen. Auf der Brücke steht ein alter Mann, das Gesicht wettergegerbt und ein Beil geschultert. Er ist in Begleitung eines kleinen Hundes. Wir überlegen kurz – dann halten wir an und fragen ihn vorsichtig zum Thema Tschernobyl. Er scheint sich über unser Vorbeikommen zu freuen und sprudelt direkt los. Hinter der Brücke liegt ein Dorf mit mehreren Holzhäusern, in dem noch 3 Personen leben (inklusive ihm). Alle können sich noch gut an die Atomkatastrophe erinnern, eine Babuschka könne auch aus dem Krieg berichten. Seinerzeit sei man mit Messgeräten vorbeigekommen und hätte genau an ihrem Dorf die Grenze gezogen und gemeint, hier wäre es nicht so schlimm mit der Bestrahlung. Allerdings wies man sie an keine Fische aus dem Fluss zu angeln und zu verzehren. Sie alle seien schon immer Selbstversorger gewesen und man hätte daher auch nicht auf die Warnungen gehört. Das Nachbardorf habe man als hoch belastet eingestuft und den Menschen seinerzeit eine gewisse Summe gezahlt, damit sie in eine andere Stadt umsiedeln. Die meisten hätten das Geld angenommen, wären aber schließlich wieder in ihr Heimatdorf zurückgekehrt. Plötzlich taucht eine alte Dame, gestützt auf einen langen Ast und humpelnd auf der Brücke auf. Sie hatten wir eben noch von der Brücke aus an einem Steg im Wasser die Wäsche waschen sehen. Auch sie möchte mit uns ins Gespräch kommen. Sie berichtet, dass ihr Mann seinerzeit als Fahrer am Reaktor eingesetzt war und an den Folgen der Strahlung verstorben ist, der er dort ausgesetzt war. Wir erfahren, dass die dritte noch hier lebende Dorfbewohnerin 99 Jahre alt ist und das das Leben auf dem Dorf mit Entbehrungen verbunden ist. Immer mehr Menschen wollen in die Stadt ziehen. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Mogiljow als nächstgrößere Stadt zu gelangen, würde mehrere Stunden dauern. Früher fuhr der Bus drei Mal am Tag. Um die verbliebenen 3 Bewohner des Dorfes mit dem zu versorgen, was sie nicht selbst anbauen, beliefert das Dorf zwei Mal wöchentlich ein kleiner Lebensmittelbus. Ansonsten kommen auch die Kinder und Enkelkinder regelmäßig zu Besuch. Von der älteren Generation wolle niemand hier wegziehen. Zu sehr sei man mit dem Land, der Erde und der Natur hier verbunden.
Dass viele Dörfer nicht nur wegen der Tschernobyl-Katastrophe verlassen sind, konnten wir auf unserer Fahrt feststellen. Denn wir kamen an einem solchen Dorf vorbei, in dem die ältere Generation verstorben ist und die junge Generation nicht mehr leben möchte.
Unsere Fahrt führt uns weiter in die Kleinstadt Tscherykau. Auf dem Weg dorthin sehen wir sehr viele am Waldesrand parkende PKWs. Wir vermuten, dass viele Einheimische aktuell Waldfrüchte sammeln. Tscherykau ist eine kleine ländliche Stadt mit einigen Mehrfamilienhäusern, jedoch auch vielen Holzhäusern und den dazugehörigen obligatorischen Gärten. Hier baut jeder sein eigenes Obst und Gemüse an. Vor einigen Jahren nahmen mehrere Kinder aus Tscherykau an unseren Gastkindererholungen in Deutschland teil. Die Region gilt als strahlenbelastet. Seinerzeit besuchten wir diese Stadt und stellten im Gespräch mit Einheimischen fest, dass es zwar in öffentlichen Gebäuden Messgeräte für Ost und Gemüse gibt, diese Geräte jedoch von den Einwohnern der Stadt nur selten genutzt werden.
Wir verweilen kurz in der Stadt und machen uns mit vielen Eindrücken im Gepäck auf den Weg zurück nach Mogiljow.
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